Ein Leben lang auf Reise: Als Dauergast im Abenteuer namens Welt
*Gastbeitrag von Robin Hartmann*
Über den Gastautor:
Robin Hartmann ist freier Journalist aus Berlin und Träger des Ernst-Schneider-Preises für Wirtschaftsjournalismus. Jeden verdienten Cent investiert er in Reisen, die ihn schon auf vier Kontinente geführt haben. Immer mal wieder nach Hause kommen ist für ihn aber mindestens genauso schön – denn: Home is where the heart is!
Anmerkung von Conni: Robin und ich haben uns im Secret Garden Hostel in Quito, Ecuador, kennengelernt! :)
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Und dann plötzlich, nach einem fiebertraumartigen Flug durch den wolkenlosen Himmel Venezuelas, stehen wir mitten auf dem Flughafen von Canaima, der in diesem unendlich anmutenden Meer von Grün so irreal wirkt wie ein Weihnachtsdorf in einem Science-Fiction-Film.
Eine Landebahn mitten im Nirgendwo, ein paar kleinmotorige Flugzeuge, eine Handvoll Mitreisender un er – Pierre. Franzose, 84 Jahre alt, ein Händedruck, als würde man im Kalender ein paar Dekaden zurückblättern, und auch das schüchterne Lächeln wirkt um etliche Jahre jünger als der Körper.
Den Salt Angel wolle er sich ansehen (natürlich, deswegen sind wir alles hier), den höchsten Wasserfall der Welt, 979 Meter pure Naturgewalt, die absolute Extase für Touristen in Venezuela.
Eine spirituelle Geistesreise für Pierre, “meine Freunde sehen sich so etwas im Fernseher an.” Er nicht, er ist Dauergast in einem Abenteuer namens Welt, Venezuela ist das 122. Land, das Pierre besucht – und er klingt , als habe er noch viel mehr vor, wenn er von seinen bisherigen Reisen berichtet: Afrika, Asien, Amerika, Antarktis, Europa, und nein, auf dem Mond sei er noch nicht gewesen, aber man könne ja nie wissen.
Wir besteigen das Langboot, das uns auf dem Fluss Churún dem Salto Angel ein großes Stück näher bringen soll, und Pierre flucht, weil er sich helfen lassen muss, die Gelenke wollen eben nicht mehr immer so wie der wache Geist.
“Ich war zweimal Landesmeister in Fallschirmspringen”, sagt er fast entschuldigend. “Aber vor vier Jahren habe ich damit aufgehört.”
Kurz nachrechnen, mit 80 würde das bedeuten? “Ja,mit 80, meine Arbeit als Doktor kostet zu viel Zeit.”
Piere kommt aus einem kleinen Dorf in den französischen Alpen, da sei er übrigens auch Bürgermeister, selbstverständlich, was auch sonst, möchte man fast sagen. Beinahe könnte man vergessen, dass hinter jeder Windung atemberaubende Berglandschaften auftauchen, nur um kurze Zeit (oder besser gesagt einen Kameraklick) später wieder im endlosen Grün des Regenwaldes zu verschwinden.
So etwa muss sich LSD anfühlen, nur dass das hier real ist. “Ich würde mich nicht unbedingt wundern, wenn jetzt hier plötzlich ein Dinosaurier auftauchen würde”, so ein Mitreisender beeindruckt. Nein, so richtig befremdlich wäre das wohl angesichts dieser archaischen Anblicke wirklich nicht.
Doch die wahre Attraktion ist immer noch Pierre, wir anderen steigern uns langsam in einen regelrechten Wettbewerb hinein, um ihn mit den exotischen Orten zu beeindrucken, die wir bereits das Glück hatten, besuchen zu dürfen.
Natürlich bleibt es bei dem kläglichen Versuch, ja, den Löwenfelsen auf Sri Lanka kenne er gut, und Indonesien sei als Reiseziel in der Tat sehr empfehlenswert, fantastische Natur.
Als das Boot schließlich am Fuß des Salto Angel halt macht und der Tourguide Pierre aufgrund seines Alters vom Aufstieg abrät,nehmen wir ihn in Gedanken einfach mit.
Wir klettern durch eine steinige Dschungellandschaft der Götterdämmerung entgegen, natürlich hört man den Wasserfall schon lange, bevor man ihn dann von einem Aussichtspunkt so richtig bewundern kann.
Klick klick klick gehen die Spiegelreflexkameras, ob Pierre unten im Tal wohl auch gerade auf den Auslöser drückt? Bis in den Himmel ragt die Kaskade aus Wasser und Sprühnebel, und später, als sich die Wolken verzogen haben, werden wir die ganze Schönheit des Salto Angel sehen.
Pierre hat mittlerweile schon eine der Hängematten bezogen, auch hier ganz Bürgermeister, der Ruhepol der Gruppe, und lässt such von unseren Erfahrungen berichten, wobei seine Augen mindestens so leuchten wie unsere.
Ob er denn geschnarcht habe, fragt er am nächsten Morgen etwas verschämt nach einer Nacht, in der er dem sprichwörtlichen Sägewerk ernsthafte Konkurrenz gemacht hat.
“Das liegt an meiner Nase”, entschuldigt er sich, “die habe ich mir beim Fallschirmspringen gebrochen.” Andere Leute in seinem Alter rutschen auch schon mal im Badezimmer aus, Pierre bricht sich die Nase eben lieber so.
Am Ende der Reise wundert man sich nicht einmal mehr, als Pierre wie selbstverständlich zum Piloten ins Cockpit klettert, als wir mit einer kleinen Cessna zu einem Rundflug aufbrechen. Denn, natürlich, Pilot sei er früher auch mal gewesen, “bis ich vor zwei Jahren einen kleinen Unfall mit einem Helikopter hatte.” Bis dahin habe er seine Freunde zum beiderseitigen Vergnügen durch die Luft chauffiert, “mehrere hundert Stunden bestimmt.”
Aus den Nebelwänden brechen derweil die Tepui genannten Tafelberge hervor, aus der Vogelperspektive noch weitaus beeindruckender als vom Boden aus gesehen. Bizarre Gesteinsformationen veranlassen zum atemlosen Staunen, während Herz und Kopf halb ungläubig, halb euphorisch einen Freudentanz vollführen.
Un-fucking-fassbar, was wir für ein Glück haben hier erleben zu dürfen, über den Wolken ist die Freiheit tatsächlich grenzenlos, zumindest fühlt es sich so an.
Noch lange nach der Landung wirkt in uns dieses Gefühl der Erleuchtung nach, keiner redet, alle verarbeiten. Der Gedanke an den bald schon wieder drohenden Alltag schleicht sich irgendwann aber leider dennoch ein – zumindest bei allen außer Pierre. Einen Monat gedenke er nach seiner Rückkehr zu arbeiten, dann gehe es nach Borneo. Zu den Orang-Utans? “Genau.”
Der Abschied fällt nicht leicht, so einen wie Pierre würde man ohne zu zögern als coolen Opa adoptieren. Eines steht jedenfalls fest:
Wenn wir irgendwann in seinem Alter sind und dann immer noch so abenteuerlustig sein werden, haben wir sehr viel richtig gemacht.
Kann man je zu alt zum Reisen sein? Haben dich auf Reisen auch schon mal andere Menschen so fasziniert? Teile deine Geschichte mit uns in den Kommentaren!
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12 Kommentare
Wow. Eine tolle Geschichte – ich weiß fast nicht was/wer inspirierender war der Salto Angel oder Pierre. Ich ziehe meinen Hut vor ihm und wünsche mir in dem Alter auch noch so aktiv zu sein und vor allem so frei zu sein im Kopf!
Persönlich finde ich es auch toll, dass meine Eltern jetzt, da mein Vater in Pension ist, so richtig mit dem Reisen losgelegt haben. Früher kamen sie nicht viel rum und jetzt hauen sie mindestens zwei mal im Jahr ab. Recht haben sie, denn viele reden nur davon und sparen sich das Reisen für später auf. Doch man weiß ja nie, wie fit man im Alter noch ist. Also Carpe Diem.
LG, Meli
Meli -
Inspirierender Bericht. Bis jetzt habe ich mit Pierre nur den Namen gemein. Am Rest arbeite ich noch und befinde mich mit 70 Jahren auf einem guten Weg…
Peter / PetersTravel -
Super artikel, sehr coole Sache!
Cali -
wunderschöner artikel, danke dir vielmals!
Silvia -
Toller Artikel! Ich habe mal in China ein Ehepaar (beide 75) aus Deutschland getroffen, die seit ihrer Rente durch die ganze Welt reisen. Vorher hatten sie aus beruflichen Gründen nie die Zeit dazu.
Lara -
Super Artikel! Inspiriert und motiviert einen wirklich! Ein Hoch auf Pierre ;) (Y)
Judy -
Niemals! Und ich glaube, dass sich das in unserer Zeit auch nochmal drastisch ändern. Die ältere Generation traut sich heute viel mehr zu- nicht nur, weil es seit einigen Jahre immer mehr speziell auf die “Best-Ager” abgestimmten Angebote gibt. Und damit mein ich nicht Überwintern auf Gran Canaria, sondern auch Abenteuerurlaub in Papua. Dort habe ich jedenfalls vor zwei Jahren eine ganze Rentnergruppe getroffen, die sich wagemutig in den Dschungel gestützt haben, die hatten da echt weniger bedenken als ich. Wo meine Oma noch dankend abwinkt, wie bei Nadja, fährt meine Mama dann schon mindestens zweimal im Jahr weiter weg und bei uns wird es vermutlich so sein, dass wir das komplette Renterndasein mit Reisen verbringen werden. Ich auf jeden Fall, solange ich mir das leisten kann…
Viv -
Vor vielen Jahren habe ich in Guatemala ebenfalls einen etwa achtzigjährigen Franzosen kennengelernt, der vielleicht sogar ebenfalls Pierre hiess. Kann mich nicht mehr so genau erinnern.
Er war kinderlos, seine Frau war vor ein paar Jahren gestorben und mit der Rente kam er in der Heimat nur knapp über die Runden. Er habe eine bessere Lebensqualität auf Achse.
Anders als dieser Pierre hier nahm es mein Pierre allerdings recht gemütlich. Er reiste sehr, sehr langsam. In Flores bei Tikal blieb er etwa zwei Wochen. An manchen Orten auch ein Monat. Er habe nicht mehr die Kraft wie wir jungen, jeden Tag wo anders zu verbringen, meinte er einmal.
So sehr ich meinen Pierre auch dafür bewundert habe, hatte seine Geschichte auch einen leicht bitteren Beigeschmack. Ich war mir nömlich nicht immer so ganz sicher, ob er wirklich reisen wollte oder einfach zu arm war, um zu hause zu bleiben.
Oli -
In dem sizilianischen Dorf, in dem ich derzeit lebe, traf ich vor kurzem auf einen lebens- und reiselustigen pensionierten Lehrer, der auch quer durch die Welt reist: http://mosereien.wordpress.com/2013/12/06/die-zwei-lektionen-des-paolo/ Ich fand diese Begegnung sehr inspirierend, weil wir Reiselustigen ja oft die vorwurfsvolle Frage zu hören bekommen “wie lange willst Du denn noch so leben?” Diese älteren Reisenden zeigen, daß “für immer” keine utopische Antwort darauf ist.
Andreas Moser -
Ich glaube, man ist niemals je zu alt zum Reisen. Ich würde nur anders reisen, wenn ich alt werde. Mit mehr Museen und weniger Bungeejumping. Und ich würde mich in Hostels und Schlafsälen nicht mehr wohlfühlen und könnte nicht mehr so günstig reisen wie jetzt. Was alles gar nicht schlechter sein muss, nur anders.
Shavethewhales -
Hut ab vor so einem Menschen. Ich traf mal auf Gran Canaria eine ”
old english Lady” 80 Jahre alt. Die meinte, ihre Kinder und Enkel machen sich sorgen, dass sie in ihrem Alter noch reist. Aber sie meinte, ihr sei das egal. Sie hat viel Freude am Reisen.
palina -
Ich finde es super, dass Pierre noch reist! Mein Opa sitzt die ganze Zeit nur vorm Fernseher, und versteht nicht warum ich mich vor ein paar Monaten verabschiedet habe, um nach Australien, Neuseeland und Asien zu reisen- ” Wieso willst du denn da hin? Das kann man sich doch auch im Fernsehen ansehen!”… Ich habe hier in Australien auch schon so viele verschiedene Menschen kennengelernt! Da wäre zum Beispiel ein Argentinier, der seit 5 Jahren um die Welt reist und als Koch in den verschiedenen Ländern Erfahrung sammelt. Oder eine Deutsche, die nach Australien gereist ist, um hier einen Farmer zu finden und zu heiraten und für immer hier zu bleiben. Oder einen bekannten australischen Footballspieler, Aborigini, der seine eigene Aktie hat, dessen Bild in einem Museum hängt und der kurz davor steht ein paar Millionen zu verdienen, weil auf dem Grundstück seiner Familie Öl gefunden wurde. Doch anstatt in Villas zu wohnen campt er lieber mit seiner Freundin und reist durch Australien…
Das ist auch so was tolles am Reisen; nicht nur das Land dass man sieht, sondern auch die Menschen die man trifft!
Liebe Grüße, Nadja
Nadja -